Die Oxboro-Straße war eine Tagesreise von Immerfall entfernt und sicherer als die Wege tiefer in der Wildnis. Einige von uns Reisenden auf den Straßen von Lichtholz nach Immerfall hatten sich in der letzten Stunde versammelt, während das lila Abendlicht langsam in tiefblaue Nacht überging. Es begann, als ich auf das Lager einer Pelzhändlerin stieß, der ich schon unterwegs begegnet war. Sie hatte bereits ein Feuer entfacht, dass uns in der kühlen Abendluft wärmte. Ich setzte mich zu ihr, holte einige Zutaten aus meinem Rucksack und gemeinsam bereiteten wir einen Eintopf mit Gemüse und Wild zu. Bald darauf kam ein nervöser Mann auf uns zu. Er stellte sich als Schmiedelehrling vor, der in Immerfall sein Handwerk verfeinern wollte. Er war erst argwöhnisch, wirkte dann aber erleichtert über die Sicherheit, die unsere Gemeinschaft versprach.
Als die letzten Sonnenstrahlen am Horizont verschwanden, kam ein vierter Reisender in unser kleines Lager. Schweigsam, aber selbstbewusst nickte er uns höflich zu und wärmte seine Hände am Feuer. Er trug einen Bart und war offensichtlich kein Mann vieler Worte, doch in seinen Augen funkelte eine gewisse Weltgewandtheit oder gar Weisheit. Wir hatten die letzte Stunde damit verbracht, abwechselnd plaudernd und schweigend unseren Eintopf zu essen, während der Mond über uns aufging.
Nun war es Nacht, der Himmel tiefblau und der Mond ließ die Wolken leuchten.
Das Feuer knisterte und ich sah den Funken zu, wie sie in den Nachthimmel aufstiegen. Als ich bemerkte, wie das Feuer die umliegenden Bäume erhellte, knoteten sich plötzlich meine Eingeweide zusammen. Normalerweise ist ein großes Feuer eine gute Sache, hält es doch Wölfe und Gespenster vom Lager fern. Doch jetzt können das Leuchten und der Rauch des Feuers die Aufmerksamkeit ruchloser Neuankömmlinge in diesem Teil von Aeternum erregen: Die Varangianischen Ritter auf ihrem grausamen und skrupellosen Eroberungsfeldzug.
„Weiß jemand, wie weit südlich der Varangianische Außenposten liegt?“ frage ich sorgenvoll. Mein Glück wird nicht ewig anhalten. Ich hatte bereits gegen sie gekämpft, und auch wenn ich diese Auseinandersetzungen mehr oder weniger unbeschadet überstanden habe, war ich noch nie einem Ritter von Rang und Namen gegenübergestanden. Und bereits ihre Fußsoldaten waren mehr als kompetente Kämpfer.
„Hier in der Gegend ...“ Die Pelzhändlerin deutete auf den Zerstörten Obelisken, der im Süden in den Himmel ragte, „... sind sie hauptsächlich da unten. Scheinen sich vor allem für die Ruinen zu interessieren. Angeblich suchen sie irgendeine hoch entwickelte Technologie der Ahnen.“
Der Schmied sah uns nervös an. „Da habe ich was anderes gehört“, sagte er. „Sie verbreiten sich über ganz Aeternum. Sie scheinen mehrere Dinge zu suchen. Relikte, habe ich gehört. Mächtige Artefakte, die überall im Land versteckt sind.“
Der Bärtige nickte. „Ja, das klingt glaubwürdiger, wenn man ihre Geschichte kennt.“ Er kennt sie? Da wäre er der Erste, den ich je getroffen habe.
„Was weißt du über sie?” fragte ich neugierig.
„Bevor ich hierherkam ...“ Der Reisende ließ seinen Blick über die Wildnis von Aeternum schweifen, bevor er sich wieder dem knisternden Feuer zuwandte. „ ... war ich stolz auf mein Wissen über die Welt. Diese Ritter, wie sie sich selbst nennen, haben eine reichlich blutige Geschichte.“
„Sie begannen als Plünderer im Norden Europas, wo sie sich alles unter den Nagel rissen, was nicht niet- und nagelfest war. Anfangs waren sie wie alle anderen Wikinger, aber nach Jahrzehnten der Expansion und des Ausplünderns der nordischen Länder hat sich etwas geändert. Plötzlich konzentrierten sie ihre Angriffe mehr auf gezielte Bereiche. Als würden sie nach etwas suchen.“
„Ihnen lag nichts mehr daran, Ländereien zu beherrschen. Stattdessen suchten sie nach der ultimativen Macht. Einer Macht, die über das hinausgeht, was Menschen allein erreichen können. Sie begannen speziell das Byzantinische Reich anzugreifen. Doch so stark sie auch waren, gegen die schiere Menge der byzantinischen Truppen hatten sie im direkten Kampf keine Chance. Aber sie waren gerissen und begriffen, dass sie ihre Ziele auch auf andere Weise erreichen konnten. Also schleusten sie einige ihrer besten Krieger in das Byzantinische Reich ein. Diese listige, blutrünstige und brutale Gruppe arbeitete sich innerhalb des Reichs hoch und sicherte sich die Gunst der verschiedenen Kaiser. Sie wurden zu einer Elitetruppe, die oft in vorderster Reihe kämpfte.“
„Viele denken, dass sie in Wirklichkeit das Wissen von Byzanz nutzten, um mächtige Artefakte in aller Welt einzusacken. Und es scheint, als hätte sie dieses Streben nach Macht nun nach Aeternum geführt.“
Der Reisende hielt kurz inne, bevor er weitersprach. „Aeternum stehen großes Blutvergießen und viele Schlachten bevor. Die Varangianischen Ritter geben niemals auf. Wenn sie mit ihren brutalen Raubzügen ihr Ziel nicht erreichen, werden ihre listigen Anführer einen anderen Weg finden.“
Auf mehr als einem Gesicht rund ums Feuer machten sich Sorgenfalten breit. Wir saßen schweigend da. Eine Minute lang? Oder eher ... zehn? Schließlich legte ich meine Plattenrüstung ab, zog meinen Umhang enger um die Schultern und legte mich mit dem Rücken zum Feuer hin.
Kaum hatte ich die Augen geschlossen, trug mir der zwischen den hohen Bäumen pfeifende und durch das feuchte Gras raschelnde Wind einen klagenden Schrei zu. Meine Muskeln spannten sich an und es lief mir kalt den Rücken runter. Das Heulen eines Wolfs? Oder doch etwas anderes? Angesichts der Entfernung spielte es kaum eine Rolle. Ich atmete tief aus, entspannte mich und dachte schnell an etwas anderes.
Ein listiger und grausamer Feind. Gerissener als das Syndikat, geschickter im Kampf als die Marodeure und mit mehr Wissen über uralte Quellen der Macht und heilige Artefakte ausgestattet als das Bündnis.
Ausnahmsweise berührten mich die unheimlichen Geräusche der Nacht in Aeternum nicht weiter, denn während ich Schlaf vortäuschte, konnte ich nur daran denken, was der Reisende gesagt hatte – und was das für uns bedeuten würde.